Vernissagerede von Sebastian Frommelt, Filmemacher
Zwei Künstlerinnen mit unterschiedlicher Formsprache bespielen gemeinsam einen Raum. Dabei ist der Anlass zur gemeinsamen Präsentation ihrer Arbeiten nicht einfach nur der äussere Rahmen von Ort und Zeit, sondern ein, bereits seit mehreren Jahren dauernder, freundschaftlicher Austausch über die Kunst und das Leben. Auf die Frage, ob sich die beiden Kunstschaffenden regelmässig über die eigenen Arbeiten unterhielten, antwortet Carol Wyss, dass dies zwar auch geschehe, viel wichtiger aber sei der gemeinsame Besuch von Museen und Ausstellungen Dritter. Beide sind oder waren Pendlerinnen zwischen Liechtenstein und London und beide sind zeitweise im Kunstmuseum Liechtenstein anzutreffen, wo sie sich als Ausstellungstechnikerinnen ein paar Franken dazu verdienen, gleichzeitig aber auch eine gewisse Routine im Platzieren und Installieren von Kunstobjekten in ständig neuen Konstellationen erlangt haben.
Bereits während den Vorbereitungen zu dieser Ausstellung konnte man spüren, dass Eva Frommelt und Carol Wyss einen sehr ernsthaften und kritischen Umgang mit ihrer eigenen Arbeit pflegen. Sie sind beide weit davon entfernt, verspielte, kokettierende oder gar ironische Kunst zu schaffen, dafür wären sie auch viel zu skeptisch eingestellt gegenüber allem, was auf Effekt, Unterhaltung oder cooles Understatement setzt. Der intellektuelle Schick scheint nicht ihre Sache zu sein, das Unverbindliche ist ihnen suspekt.
Die Arbeiten dieser beiden Künstlerinnen stehen schutzlos inmitten einer unübersichtlichen und inflationär wirkenden Welt der Bilderproduktion, einer vermeintlichen Banalisierung des Schauens ausgesetzt. Als einfacher Endverbraucher von Kunstausstellungen als Ereignisangebot, fällt einem vermehrt auf, dass es immer schwieriger wird, ein verbindliches System an Qualitätskriterien einzufordern, die einem bei der individuellen Bewertung eines Werkes als analytische Krücke dienen könnten. Schwierig vor allem auch deswegen, weil von den Kunst ausstellenden oder archivierenden Institutionen das jeweilige hauseigene Bewertungssystem oft nur in passiver Form kommuniziert wird, sofern solche Qualitätskriterien überhaupt formuliert werden. Vielfach erfährt man kaum mehr als eine diffuse Grundhaltung, unverbindlich in ihrer Anwendbarkeit oder Übertragbarkeit. Die lokalen Medien geraten beim Berichten über eine Kunstausstellung in den Konflikt zwischen dem Wohlwollen gegenüber der Kultur und dem Wissen um das beschränkte Interesse an einer theoretischen Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst. Das hat zur Folge, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit fast ausschliesslich auf die Kunst als geselliger Anlass fokussiert. Nicht zuletzt auch deswegen, weil es mangels einer populären Terminologie schwierig ist, über zeitgenössische Kunst zu reden, ohne einen kunsthistorischen Kontext vorauszusetzen. Das will aber nicht heissen, dass sich unsere Kunstinstitutionen dieser Herausforderung verschliessen würden, das Gegenteil scheint der Fall, die breitere Öffentlichkeit wird vermehrt gesucht und gepflegt.
Warum erzähle ich ihnen von meinen Schwierigkeiten beim öffentlichen Reden über Kunst? Weil ich mich als interessierter Laie genau jetzt in so einer Situation befinde.
Carol Wyss und Eva Frommelt haben mich vor einiger Zeit gebeten, heute Abend eine Vernissagenrede zu halten, gleichzeitig haben sie mir aber zu verstehen gegeben, das die Vernissagenrede lediglich ein notwendiges Übel sei, ich solle mir bloss kein Bein ausreissen und könne gänzlich auf den Versuch verzichten, ihre Arbeit kunsttheoretisch einordnen zu wollen. Danke für den Freispruch. In diesem manifestiert sich auch die Skepsis der beiden Künstlerinnen gegenüber den verbalen Entführungsversuchen wie sie in der Welt der Kunsttheorie immer wieder vorkommen. Trotzdem: die beiden Damen haben meine Behauptungen zu ihrer Arbeit teilweise bestätigt und teilweise von sich gewiesen. Das gab mir die Möglichkeit, nach dem Ausgrenzungsverfahren vorzugehen und den verschiedenen Grundmotiven der beiden Künstlerinnen nachzuspüren.
Zuerst mal zu Eva Frommelt: bei der Beurteilung ihrer Arbeit habe ich den grossen Vorteil, dass ich sie schon ziemlich lange kenne, weil wir Geschwister sind. Deswegen darf ich auch ohne Pathos sagen: meine Schwester Eva hatte von Anfang an keine Chance, sie war zur Malerei verdammt. Schon als Kind legte sie einen irritierend kompromisslosen und selbstbewussten Malstil an den Tag. Bereits mit ein paar wenigen Pinselhieben konnte Eva eine spannungsgeladene Welt heraufbeschwören, einem Bild das Wesentliche abringen. Diese Qualität hat sie weiter kultiviert und eines Tages hat sie beschlossen, selbst in eines ihrer Bilder hineinzugehen. Das führte zum ersten Körperabdruck, der eine ganze Schaffensperiode im klassischen Sinne auslösen sollte, das Produkt ist die hier ausgestellte Serie. Die Abdrücke werden von Menschen ins Spiel gebracht, die ihren mit Farbe bedeckten Körper auf das am Boden liegende weisse Papier stempeln. Dieser Vorgang ist gleichzeitig Initiationsritus für das nun entstehende Bild, das jeweils drei bis vier Wochen für seine Kunstwerdung braucht. Dabei verwendet Eva mehr Wasser als Farbe, wobei der Gerinnungsfaktor der Mischung entscheidend ist. Das kontrollierte Verlaufen der dünnflüssigen Farbe dient als lebendiges Gestaltungsmittel, das immer wieder weggetrocknet, abgescheuert, übermalt oder restauriert wird.
So entstehen um den menschlichen Abdruck herum Räume aus Farben und Aussparungen, die das Abbild des konkreten Körpers zu einer Metapher vergeistigter Existenz werden lassen. Aus dem Abdruck wird ein belichtetes Bild, das einem nicht preisgibt, ob sich der Körper aus dem Hier und Jetzt in die Tiefe fallen lässt oder ob er als Erscheinung aus dem Jenseits an die Schwelle zum Diesseits tritt, dazwischen nur eine dünne Membran aus unüberwindbarer Zeit. Die Räume nehmen Spuren der Körper auf, als Treibgut in einer fliessenden Dimension, atomisiert, melancholisch, aber auch Befreiung fordernd oder eine Erdung suchend. Es ist ein Ausloten von Aggregatszuständen des Ichs, wo der Kopf, das Bewusstsein, keine Orientierung mehr bietet, sondern nur das Sehnen und Erinnern des Körpers eine ziellose Richtung vorgeben. Eine komplett nonverbale Welt voller Ahnungen. Doch über all dem steht Evas ringen um die Qualität der Malerei als solche, wie sie selbst immer wieder betont. Diesen Anspruch kann sie sich auch leisten, denn offensichtlich handelt es sich bei ihren Bildern nicht um Produkte akademisch vorgeführter Fingerfertigkeit, sondern um eine aus einem tiefen Selbstverständnis heraus gewachsene Intuitionsmalerei. Als Antwort auf meine Frage, warum sie sich ausschliesslich mit dem klassischen Ausdrucksmittel von Farbe auf Leinwand beschäftige, antwortet sie ohne Überlegen zu müssen, dass es für sie kein direkteres und ehrlicheres Ausdrucks- und Gestaltungsmittel gebe als die Malerei. Doch manchmal kann sich auch eine Leere einstellen, die die Malerin dazu verdonnert, tagelang vor einem begonnenen Bild zu sitzen und darauf zu warten, bis ihr das Bild sagt, wie es weitergeht.
Carol Wyss ist da weniger von einem einzelnen Bild abhängig, lässt sich auch weniger von der reinen Intuition die Gestaltung vorgeben. Sie hat einen anderen Zugang zu ihrer Arbeit, eine anderen Ansatz im Umgang mit Form und Inhalt. Ähnlich der Vorgehensweise einer Wissenschaftlerin nimmt sie sich vor, eine systematische Ordnung des Erforschten oder eben eine Neustrukturierung der Unordnung durchzuführen und solange zu experimentieren, bis sie das Potential des Rohmaterials ausgeschöpft glaubt. Auch Carol hat in ihrer aktuellen Arbeit einen Aspekt des menschlichen Körpers als Ausgangslage oder besser gesagt als Aufgabenstellung gewählt, nämlich die Bausteine des menschlichen Skeletts, zweckentfremdet zu frei modulierbaren Konstruktionseinheiten.
Die fototechnisch erfassten Einzelknochen des gesamten menschlichen Skelettes setzt sie z.B. in einzelne Radierungsplatten um, die sie wiederum seriell neu geordnet auf eine Papierbahn von 16 Metern Länge druckt. So entsteht eine Art Schriftrolle, auf der man entweder einen verschlüsselten Text in einer urtümlichen Zeichenschrift vermutet oder die Partitur zu einem archaischen Musikstück, festgehalten in einer frühzeitlichen Notation.
Carol Wyss variiert ihre Prämissen, auf denen sie ihre Formexperimente aufbaut. Was bei den filigran hängenden Bahnen nach einer rein typografischen Gesetzmässigkeiten folgenden Schriftästhetik aussieht, die nach Carols Aussagen eine Geschichte des Menschseins erzählt, versteht sich die rote, abgerollte Bahn mehr als Aufschlüsselung des menschlichen Genoms, transponiert in eine Zeichenwelt, die aus den Elementen des Skeletts aufgebaut ist, jedoch in ihrer Proportionalität auf einem einheitlichen Raster ausgerichtet wurde. Der aufmerksame Umgang mit dem Ausgangsmaterial und die aufwändige Umsetzung in konkrete Objekte zeugt von einem hohen Anspruch, den die Künstlerin an sich selbst stellt. Sie gibt sich nicht mit einer skizzierten Idee zufrieden, spekuliert nicht mit rein ästhetischen Effekten, sondern folgt einem geheimnisvoll anmutenden Auftrag, bei dem die Repetition der Zeichen die Qualität eines Zauberspruchs erlangt, entweder um Geister fernzuhalten, oder um mit ihnen in Kontakt zu treten. So begründet Carol Wyss ein eigenes, in sich stimmiges, mehr entdeckt als erfundenes Zeichensystem einer behaupteten oder bereits vergessen gegangenen Kultur oder Sprache, die einem seltsam berührt, als hätte man diese Schrift vor Urzeiten einmal beherrscht, vielleicht in einem früheren Leben. Aber es ist nicht unser Kopf der sich daran erinnert. Es ist die Erinnerung unseres Körpers, in dessen Übermittlungscode die Zeit zwischen den Generationen überwunden werden kann. Carol Wyss ist demnach also keine Altphilologin, sondern vielmehr die Vertreterin einer experimentellen Anthropologie. Und da es sich dabei nicht um eine empirische Wissenschaft handelt, sind auch seelische Regungen wie emotionale Verbundenheit mit dem Forschungsobjekt oder das Empfinden von Respekt gegenüber der unbekannten Triebkraft, die diesen Formen zugrunde liegt, absolut legitim, ja sogar erwünscht.